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Jg. 51 – 2003 – Heft 1: Wandel der ländlichen Welt vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert

Editorial

In den letzten zwei Jahrzehnten bildete die erneuerte und erweiterte Agrargeschichte eine der produktivsten Disziplinen der Geschichtswissenschaften, ohne dass sich das in einem institutionellen Unterbau niedergeschlagen hätte. Deshalb besteht eine wichtige Aufgabe der ZAA darin, die vorhandenen Beiträge und Debatten in der Disziplin in das Gesamtfach Geschichte einzubringen und dort zur Klärung übergreifender Probleme beizutragen. Eine andere Aufgabe besteht darin, den Bezug zur Land- und Agrarsoziologie herzustellen, deren institutionelle Stellung mit dem Schrumpfen der (ehemaligen) Landwirtschaftlichen Hochschulen und Agrarfakultäten in den letzten Jahren schwächer wurde. Ihre Beiträge bleiben aber insbesondere für die Entwicklungs- und Regionalsoziologie von Bedeutung. In diesen Teilgebieten des Fachs gibt es auch die größten Überschneidungen mit der Agrargeschichte.

Um deutlich zu machen, worum es ihnen künftig geht, haben die Herausgeber der Zeitschrift diese erste von ihnen verantwortete Nummer unter das allgemein gehaltene Motto „Wandel der ländlichen Welt vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert” gestellt. Agrargeschichte hat traditionell eine Stärke darin, dass sie langfristige Prozesse besser untersuchen kann als andere historische Disziplinen. Sie trägt damit zur allgemeinen Transformationsdebatte bei und bringt Gesichtspunkte ein, die heutiger Erfahrung nicht mehr zugänglich sind. Vier Autoren haben sich auf das Abenteuer eingelassen, ihre Sicht auf die großen gesellschaftlichen Umbrüche in der ländlichen Welt vom Hochmittelalter bis ins 20. Jahrhundert vorzustellen.

Im Beitrag von Ludolf Kuchenbuch werden fundamentale Wandlungsprozesse der Agrargesellschaft vom 11. bis zum 14. Jahrhundert in neuer Perspektive angesprochen. Auf der Grundlage der wichtigsten Neuerscheinungen des vergangenen Jahrzehnts zu den agrarischen Transformationen des Hochmittelalters wird ein Gesamtbild skizziert, das den Übergang von der direkten domanialen Bewirtschaftung zu einer auf Zinsabgaben ausgerichteten Grundherrschaft aufzeigt; wobei die räumlichen und zeitlichen Unterschiede in den einzelnen Ländern und Regionen betont werden. Es zeigt sich, dass die Transformationen des Hochmittelalters in ihren Folgen ambivalent sind: Teils resultiert aus ihnen eine Befreiung, teils eine Verknechtung der Bauern.

Robert von Friedeburg geht der Frage nach, wie der Wandel der ländlichen Gesellschaft an der Wende zur Neuzeit in der agrargeschichtlichen Forschung der letzten Jahrzehnte konzeptionalisiert wurde. Er setzt sich kritisch mit den älteren Arbeiten zur Agrarverfassung und den jüngeren zur Geschichte von Protest und Widerstand, von Landgemeinden und „Kommunalismus” auseinander. Er plädiert für eine intensivere Erforschung der ländlichen Welt in der frühen Neuzeit, die der sozialen Differenzierung der Dörfer und der Ökonomie der ländlichen Bevölkerung größere Aufmerksamkeit schenkt.

Lutz Raphael widmet sich dem „Staat im Dorf” und damit der Transformation lokaler Herrschaft im Wandel zum „langen 19. Jahrhundert”. Es geht um das prekäre Verhältnis zwischen Landbevölkerung und modernem Staat. Der Beitrag zeigt im Vergleich von Frankreich und (West-) Deutschland auf, dass staatliche Präsenz in den Landgemeinden dort labil und gefährdet blieb, wo die demographischen und ökonomischen Basisprozesse den Problemdruck aufrecht erhielten. Die Revolutionen von 1789 bis 1848 bildeten auch Zäsuren in den Konfigurationen lokaler Herrschaft. Die Durchsetzung des neuen Modells administrativer Kontrolle wurde indes erst nach 1850 voll wirksam.

Der Aufsatz von Gustavo Corni markiert bereits den Übergang von zeitgeschichtlicher zu land- und agrarsoziologischer Forschung während einer „post-marktwirtschaftlichen” Phase. Trotz unterschiedlicher sozialstruktureller und agrarpolitischer Vorbedingungen erweist sich der vergleichende Ansatz zur Erforschung der Agrartransformation in Deutschland und Italien als fruchtbar. In beiden Ländern zeigen sich die Verwerfungen zwischen Agrarideologie und tatsächlichem Modernisierungskurs des Faschismus/Nationalsozialismus, aber gerade auch dessen Inkonsequenzen und Misserfolge. In der Nachkriegszeit fällt insbesondere für Italien das anhaltende Gewicht des Agrarsektors in Politik und Gesellschaft auf.

 

Inhalt

Ludolf Kuchenbuch: Vom Dienst zum Zins? Bemerkungen über agrarische Transformationen in Europa vom späteren 11. Zum beginnenden 14. Jahrhundert, S.11.

Robert von Friedeburg: Die ländliche Gesellschaft um 1500. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, S. 30.

Lutz Raphael: Staat im Dorf. Transformation lokaler Herrschaft zwischen 1750 und 1850: Französische und westdeutsche Erfahrungen in vergleichender Perspektive, S. 43.

Gustavo Corni: Markt, Politik und Staat in der Landwirtschaft. Ein Vergleich zwischen Deutschland und Italien im 20. Jahrhundert, S. 62.

 

Forum

 Kai Brauer u. Claudia Neu: Entstaatlichung und Ernährungsrisiken? Bericht über die öffentliche Podiumsdiskussion im Rahmen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, S. 79.

Rosemarie Siebert, Verena Toussaint, Klaus Müller: Forschungsbericht GRANO. Ansätze für eine dauerhaft-umweltgerechte landwirtschaftliche Produktion: Modellgebiet Nordost-Deutschland, S. 82.

Gunther Viereck: Kritische Edition der Briefe von Johann Heinrich von Thünen, S. 85.

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