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Jg. 53 – 2005 – Heft 1: Allgemeine Migration und ländliche Gesellschaften

Editorial

Wird über die massenhafte Abwanderung aus peripheren ostdeutschen Landstrichen berichtet, greifen die Autoren schnell in die Kiste gängiger Horrorszenarien: Verödung und Verwilderung drohen. Dass sich die Menschen zum Weggang entschließen, weil sie woanders mehr Chancen auf ein „gutes Leben” haben, wird dagegen kaum thematisiert. Die Verluste, nicht die Gewinne von Migration stehen im Scheinwerferlicht.

Ein weiteres Beispiel: Die Weltbank schätzt, dass im Jahr 2025 63 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben wird – insbesondere in Südostasien, Afrika und Südamerika. Diese Städte haben – wie Anthony Giddens in seinem Lehrbuch „Sociology” bedauert – nichts gemeinsam mit dem europäischen Ideal der toskanischen Städte oder den Pariser Boulevards. Auch bei der öffentlichen Thematisierung weltweiter Migrationsströme schwingt stets ein anklagender Unterton mit.

Unter dem Begriff Migration werden sehr verschiedene Wanderungsformen zusammengefasst, z.B. durch Vertreibung und Flucht und Verschleppung, Aus- oder Zeitwandern, Pendeln an städtische Arbeitsplätze oder Abwanderung vom Land in die Stadt und zurück. Obwohl die Migrationsforschung, die sich also um einen abstrahierenden und verallgemeinernden Zugang bemüht, einige Distanzierungs- und Objektivierungsstufen durchlaufen hat, tritt sie den Wanderungsprozessen und -folgen nicht „neutral” entgegen. In ihr ist die Botschaft eingeschrieben, dass die betroffenen Menschen ihren angestammten Ort weit öfter erzwungenermaßen denn freiwillig verlassen, um „ihr Glück zu suchen”. Bei der Analyse von Migrationen rücken deshalb die Motive und Ursachen ins Zentrum, welche den Einzelnen wie größere Gruppen zum „Weggehen” veranlassen.

Die Migrationsforschung unterscheidet drei Hauptantriebe: politische oder religiöse Benachteiligungen bzw. Verfolgungen und insbesondere die Verbesserung der persönlichen und familialen Lebensverhältnisse. Auch in den nachfolgenden vier Aufsätzen bildet das letzte Motiv den Anlass zu Migrationen. Es ist demnach vor allem die räumlich ungleiche Verteilung von Lebenschancen und -perspektiven, die zum Aufbruch in die Ferne oder in die Nähe treibt. In ihr reflektiert sich das normative Element des Migrationsbegriffs auf gesellschaftlicher Ebene: räumliche Ungleichheiten als Ausprägungen sozialer Ungerechtigkeit. Dazu: Migration ist nicht nur ein Prozess, aus dem sich stets Folgen für Herkunfts- wie Zielgesellschaften ergeben (in ihrer verschieden dimensionierten Räumlichkeit), sondern beruht stets auch auf Kommunikation, war und ist von Erwartungen und „Bildern” geprägt, von Hoffnungen und Zukunftsplänen.

Die wertenden Eigenschaften des Migrationsbegriffs sind aus dem Begriff Mobilität, der in den Sozialwissenschaften bevorzugt zur grundlegenden Beschreibung verwendet wird, scheinbar gänzlich getilgt. Um Mobilität zu bestimmen, genügen die kontextunabhängigen Kategorien Raum und Zeit. Werden Migrationen als eine Form von Mobilität aufgefasst, reicht es hin, räumliche und zeitliche Präzisierungen vorzunehmen wie regionale, grenzüberschreitende oder kontinentale und zirkuläre, temporäre oder einmalige Mobilität, sprich dauerhafte Abwanderung. So abstrakt als räumliche Mobilität gefasst, ist es nahe liegend, aus makrosoziologischer und -ökonomischer Perspektive sowie in den historischen Studien nach so genannten Push- und Pull-Faktoren zu fragen. Zu den in den Sozial- und Geschichtswissenschaften besonders häufig genannten gehören Differenzen in der Bevölkerungsdichte, den Erwerbschancen und der Lohnniveaus zwischen den Ab- und den Zuwanderungsgebieten.

In vielen empirischen Studien und theoretischen Erklärungsmodellen verband sich die in der Unterscheidung in Push- und Pull-Faktoren angelegte Betonung von Gegensätzen mit gängigen, oftmals wissenschaftlich angestoßenen Diskursen über die Stadt-Land-Differenz, die ebenfalls zumeist schlicht dichotomisch argumentierten: Gesellschaft oder Gemeinschaft (Tönnies), mechanische oder organische Solidarität (Durkheim), Traditionalismus oder Moderne. Heutige Migrationsforschung scheint zwar auf dem Weg, die alte Dichotomie von „Stadt” und „Land” auch forschungsstrategisch zu verlassen, doch bislang wurden hauptsächlich Wanderungen aus den ländlichen in die städtischen Gesellschaften erforscht, wodurch der Eindruck entstand, dass die Hauptwanderungsströme den direkten Weg aus den ländlichen Peripherien in die städtischen Zentren nahmen, was dazu führte, dass das Land zum „Quellgebiet von Industrialisierung und Urbanisierung” verkam und nicht mehr eigens thematisiert werden musste.

Viele Migrationsforscher – auch die Autoren in diesem Heft – kritisieren diese Blickverengung und zeigen, dass sich so die Vielfalt und Komplexität räumlicher Mobilität nicht erfassen lässt: Saisonarbeiter aus ländlichen Regionen, die bei der Ernte in anderen agrarisch geprägten Gebieten tätig sind; Landarbeiter, die auswandern, um in der Ferne als Farmer zu arbeiten; junge Familien, die für sich bessere Erwerbschancen in benachbarten Kreisen oder Kleinstädten erhoffen. Verzichtet man auf pauschale Typisierungen und begibt sich stattdessen auf das Feld der empirischen Kleinarbeit, dann zeigt sich ein wesentlich vielschichtigeres und farbenreicheres Bild der verschiedenen Wanderungsformen. Vor allem wird aber deutlich, wie eng die dichotomen Typologien mit modernisierungstheoretischen Annahmen und Sichtweisen verschlungen waren und wie geschmeidig sie sich in das Leitbild einer funktionalen, hoch arbeitsteilig organisierten Gesellschaft einpassten.

Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass Migration stets auch mit den politischen Regimes zu tun hat, die sie „steuern und verwalten”, mit Ausländerpolitik auch schon vor der wilhelminischen Phase oder den ins Land geholten „Gastarbeitern“, einer Migrationspolitik, die wiederum nicht allein ökonomischen oder protektionistischen Kalkülen folgt, sondern auch mit Bedrohungsszenarien (polnische Wanderarbeiter als „Reichsfeinde”) und -ideologien zu tun hat. Die jeweilige Konstruktion von lokaler „Zugehörigkeit” einerseits und „Staatsangehörigkeit” andererseits bestimmte und bestimmt mit die Risiken, die Chancen und den Verlauf von Migrationsströmen, die sich zwischen den Polen des Zwangs und der Welterschließung bewegten.

Editorial, S. 7-10

Marcel Boldorf: Migration und regionale Entwicklung. Niederschlesien im 18. und frühen 19. Jahrhundert, S. 10-22

Kai Brauer: Neue Horizonte ruraler Migration. Intergenerationelle Netzwerke von Nachfahren deutscher Auswanderer in Clanton, Iowa, S. 23-39

Ehmer/Zeitlhofer: Ländliche Migration in Böhmen vor der Ersten Weltkrieg, S. 40-58

Andreas Knie: Das Auto im Kopf. Die Auswirkungen moderner Verkehrsinfrastruktur auf die Mobilität der Bevölkerung im ländlichen Raum, S. 59-69

Abstracts, S. 70-72

 

FORUM

Christoph Kopke: Vor 60 Jahren wurde Hellmut Späth ermordet. Eine Erinnerung, S. 73-76

Jan Peters: Gutsherrschaft. Ein Jahrzehnt Potsdamer Forschungserfahrungen, S. 77-85

Andreas Dornheim: Das GfA-Projekt AgrarKulturerbe – erster Zwischenbericht, S. 86-92

Gloria Sanz Lafuente: Eine ländliche Gesellschaft in Bewegung. Aktuelle Perspektiven der Migrationsforschung in Spanien vom 19. bis zum 20. Jahrhundert, S. 93-98

Luigi Lorenzetti: Die Ökonomie der Wanderung in den italienischen Alpen 1500-1900. Historiografische Ansätze und neue Probleme, S. 99-102

Stephan Beetz: Region als Dimension sozialer Ungleichheit. Bericht über den 32. Deutschen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vom 4.10.-8-10. 2004 in München, S. 103-104

Zahlreiche Buchrezensionen, S. 105-142

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