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Jg. 54 – 2006 – Heft 1: Ländliches Bauen in der Mitte Europas – Traditionen und Transformationen zwischen Spätmittelalter und Moderne

Editorial

Die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert, konkret die beiden Jahrzehnte um das Jahr 2000, dürften in die ländliche Architekturgeschichte als eine Phase des tief greifenden Wandels eingehen. In der Tat scheint sich das über Jahrhunderte entwickelte,stark regional geprägte Kulturlandschaftsbild Mitteleuropas durch verschiedene Formen der Agrarintensivierung und Veredlungswirtschaft sowie die Folgen eines insgesamt dynamisierten Wettbewerbs um landwirtschaftliche Produkte und Märkte zu „globalisieren“. Friesische Gulfhäuser, niederdeutsche Gehöftanlagen, mitteldeutsche Dreiseithöfe, südbayerische Einhäuser oder oberösterreichische Vierkanter, sämtlich herausragende Baudenkmale europäischer Agrargeschichte, zollen diesem Wettbewerb Tribut. Ungeeignet, um den Anforderungen der modernen Landwirtschaft zu genügen, werden viele Hofstellen aufgegeben oder neuen, nicht mehr landwirtschaftlichen Funktionen zugeführt. Man spricht – äußerst besorgt und völlig zu Recht – vom bedrohten ländlichen Kulturgut, dessen zukünftige Existenz sich wohl auf herausragende Beispielformen einer durch öffentlichen BauDenkmalchutz und individuelle Erhaltungsmaßnahmen halbwegs gesicherte Bauernhauslandschaft reduzieren wird, vergisst dabei aber oft, dass es den von wirtschaftlichen, sozialen und gesamtgesellschaftlichen Prozessen bedingten Wandel der ländlichen Baukultur eigentlich immer gegeben hat – freilich wohl nicht in der Intensität, wie sie sich gegenwärtig vollzieht.

Es ist – auf nordwestdeutsche Verhältnisse bezogen – nicht ganz abwegig, die inzwischen weit vorangeschrittene Verwendung moderner landwirtschaftlicher Zweckbauten wie Schweinemastanlagen, Boxenlaufställe oder Putenvolièren mit dem im 19. Jahrhundert verbreiteten Vordringen der „Gulfscheune“ zu vergleichen, deren Weiträumigkeit und große Bergekapazität der wirtschaftlichen Nutzungsqualität des angestammten Niederdeutschen Hallenhauses überlegen war und – zum großen Bedauern zeitgenössischer Heimatschützer – zu dessen zunehmender Verdrängung führte. Als im Zuge der Industrialisierung während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts neue Baustoffe und -techniken auf dem Lande Einzug hielten, die dem Erscheinungsbild der ländlichen Baukultur ein deutlich verändertes Gesicht gaben, rührten sich ebenfalls Stimmen, die dem raschen Wandel Einheit gebieten wollten und darauf aufmerksam machten, dass die „Gemeinden sich nicht rühren, wenn Unverstand diese ruhige Schönheit antastet oder gar wohl vernichtet, wenn mitten in einem Dorfe unter den malerischen Bauerngehöften ein Neubau mit unruhigen Formen, grellen Farben ohne Einklang mit der Umgebung errichtet wird. Wie ein frecher Geselle steht solch ein Neubau in seiner ehrwürdigen Umgebung“.

Die „frechen Gesellen“ in „ehrwürdiger Umgebung“ waren Schöpfungen, die ein wachsender Wohlstand auf dem Lande zwischen 1875 und 1910 zu Wege gebracht hatte: neue Wirtschaftsgebäude oder villenartige Wohnhäuser, die städtischen Vorbildern glichen und eine zunehmende Verbürgerlichung der ländlichen Kultur auch im Bauwesen verkörperten. Die neuen Architekturelemente wie Putzfassaden und Gipsornamente,

Carl F. Rauchheld, Wie unser Volk wohnt und baut, in: Heimatkunde des Herzogtums Oldenburg, Bd.1, hrsg. vom Oldenburgischen Landeslehrerverein unter der Redaktion von W. Schwecke u. a., Bremen 1913, S. 319. Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie Heft 1 / 54. Jg. / 2006 Schweizer Giebel und Terrazzo-Fußböden kennzeichneten eine Entwicklung, die dem ersten Schub einer Entregionalisierung ländlicher Baukultur entsprach. Schließlich sei, um ein letztes Transformations-Beispiel aus der vorindustriellen Phase anzuführen, auf den einsetzenden Bauboom im ländlichen Raum ab der Mitte des 18. Jahrhunderts verwiesen, der offenbar in engem Zusammenhang mit der bereits von Wilhelm Abel herausgearbeiteten Agrarkonjunktur am Vorabend der bürgerlichen Agrarreformen steht und letztlich ebenfalls, in Verbindung mit den einsetzenden Markenteilungen, zu einer Umformung der bestehenden Kulturlandschaft führte. Das ländliche Bauwesen der Frühen Neuzeit und Moderne wird bestimmt von Phasen der Beharrung und des dynamischen Wandels. Diese zu konkretisieren und die Ursachen hierfür zu ergründen, gehört mit zu den Aufgaben der sachkulturorientierten Hausforschung. Obwohl der Bestand an überlieferten ländlichen Bauten kontinuierlich zurückgeht, ist der existierende Fundus nach wie vor groß genug, um als aussagefähige Quelle nicht nur für die Architekturgeschichte selbst, sondern auch für die Volkskunde, Wirtschafts- und Agrargeschichte zu dienen.

Heinrich Stiewes Aufsatz in diesem Heft ist, obwohl aus dem Blickwinkel der Hausforschung geschrieben, ein Plädoyer für die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen.

Die Bereitschaft zu ernsthafter Kooperation eröffnet tatsächlich die große Chance, brach liegende Felder auf dem Gebiet der ländlichen Kulturgeschichtsforschung erfolgreich zu beackern. Der Autor drängt aber auch auf die erweiterte Perspektive innerhalb des eigenen Faches, indem er auf die methodisch notwendige Beachtung der sozialen Unterschiede im ländlichen Bauwesen hinweist, eben weil sich gerade in dieser Diversifizierung die realen gesellschaftlichen Verhältnisse sehr deutlich widerspiegeln.

Im Beitrag von Hans-Jürgen Rach über das ländliche Bauen im Gebiet der Magdeburger Börde wird gerade dieser Aspekt besonders scharf herausgearbeitet, wie überhaupt die Ausführungen zeigen, wie wenig traditionsverbunden mitunter ländliches Bauen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Prosperität und sozialer Dynamik ausfallen konnte.

Ganz auf die Phase der Industrialisierung konzentriert sich der Beitrag von Michael Schimek, der die Bedeutung überregionaler Tendenzen im ländlichen Bauwesen herausstellt und die stilprägende Kraft von staatlichen Verordnungen, Baugewerkschulen und außerlandwirtschaftlichen Faktoren, wie z. B. den frühen Fremdenverkehr beschreibt.

Den Prozess des kontinuierlichen und beschleunigten Wandels im ländlichen Bauwesen Süddeutschlands verfolgt schließlich Herbert May, indem er das Vordringen der Steinbauweise insgesamt wie auch den Vorgang der „steinernen Verprächtigung“ in Gebieten überwiegender Holz- bzw. Fachwerkbauweise sorgfältig skizziert und diese nicht nur als Ergebnis eines technologischen Prozesses, sondern auch als Ausdruck einer allgemeinen Wohlstandsentwicklung und sozialen Differenzierungsbereitschaft deutet.

Alle Beiträge bieten die Chance, aktuelle Ergebnisse der jüngeren Hausforschung als Einladung für die intensivere Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der überlieferten Realie selbst zu begreifen und sie als vollwertige Quelle für die ländliche Wirtschafts- und Agrargeschichtsforschung ernst zu nehmen.

Der methodisch richtungsweisenden Empfehlung von Heinrich Stiewe, der zu einer engeren Verzahnung der Forschungsansätze rät und zum Austausch von Erkenntnissen zwischen Hausforschung und Agrargeschichte auffordert, ist seitens der Herausgeber dieses Heftes nichts hinzuzufügen.

Uwe Meiners, Manfred Jatzlauk, Barbara Krug-Richter

 

Inhaltsverzeichnis

 

Editorial S.7-9

Heinrich Stiewe: Ländliches Bauen zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit Ergebnisse und offene Fragen zum älteren Hausbau in Nordwestdeutschland S. 9-37

Michael Schimek: Die Industrialisierung als bauliche Prägephase im ländlichen Raum – Schlaglichter aus Norddeutschland S. 38-51

Hans-Jürgen Rach: Landarbeiterkaten, Bauernhäuser und „Rübenpaläste“. Ländliches Bauen in der Magdeburger Börde vom Ende des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts S. 51-71

Herbert May: Der Steinbau als Massenphänomen – Ländliches Bauen in Süddeutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert S. 72-97

 

FORUM

Michael Kopsidis: Europäische Ernteerträge 1400–1880: quellenkritische Betrachtungen S. 98-101

REZENSIONEN: S 102-140

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