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Jg. 58 – 2010 – Heft 2: Mediennutzung und Medienaneignung in der ländlichen Gesellschaft

Editorial

So steht es geschrieben im Spruchbalken über der Eingangstür der kleinen Bauernschaftsschule aus dem Osnabrücker Artland, die seit 1965 zum baulichen Ensemble des Niedersächsischen Freilichtmuseums Cloppenburg gehört. 1750 hatten sich die grundbesitzenden Bauern aus Renslage und Dalvers entschlossen, den Schulweg für ihre Kinder in die weit entfernten Kirchspiels-Hauptschulen von Menslage, Ankum oder Badbergen durch die Errichtung einer eigenen Nebenschule zu verkürzen. Auch wenn es wohl weniger die frühen Ideen der Aufklärung waren, welche die Bauern zu diesem Schritt bewogen haben mögen, sondern eher ein durch ‚Gottesfurcht‘ und ‚Tugendhaftigkeit‘ geprägter Erziehungspragmatismus, verweist die Maßnahme doch auf einen elementaren Bildungsauftrag, der in der bäuerlichen Gesellschaft des  Osnabrücker Artlandes offenbar schon fest verankert war. Interpretiert man diesen Schritt dahingehend weiter, dass zumindest die männlichen Kinder und Jugendlichen aus den Nordosnabrücker Bauernschaften bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts wenigstens ansatzweise lese- und schreibkundig waren, dann ist die noch um die Mitte der 1970er Jahre weit verbreitete Forschungsmeinung, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts höchstens zwischen fünf und 20 Prozent der (männlichen) Landbevölkerung West- und Mitteleuropas alphabetisiert gewesen sei1, stark in Zweifel zu ziehen.

Es ist freilich zu berücksichtigen, dass der Vorgang der Mediennutzung generell eine vielschichtige Struktur in der Aufnahme und Vermittlung des jeweiligen Mediums aufweist und darüber hinaus neben dem gedruckten Wort das – nicht nur unterstützend wirkende – Bild eine entscheidende Funktion in der Versendung inhaltlicher Botschaften einnahm. Die Kombination von „Literae“ und „Picturae“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Mediennutzung, ja sie macht deutlich, dass sich die wissenschaftliche Beschreibung der Medialisierung der ländlichen (wie auch städtischen) Gesellschaft keineswegs allein auf den demographisch-quantitativ ermittelten Grad der Alphabetisierung oder Literarisierung der Bevölkerung beschränken lässt. Überhaupt kann die individuelle Medienaneignung kaum auf den direkten interaktiven Prozess zwischen Subjekt (Mensch) und Objekt (Medium) reduziert werden, wenn man bedenkt, wie stark dieser Vorgang insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert durch „semiliterarische Prozesse“2, durch Orte der Kommunikation (Jahrmarkt, Kirche, Wirtshaus) oder durch unterstützende Interpreten und Mediatoren (wie Prediger, Theatergruppen, Bänkelsänger, Musikanten) gesteuert wurde. Es passt in den prozessualen Vorgang der seit den 1880er Jahren extrem zunehmenden Medialisierung, dass die Popularisierung der Medienstoffe ganz eng an die durch optimierte Vertriebs- und Druckverfahren, Telefon und Kino sowie schließlich durch Hörfunk und Fernsehen technisch umsetzbaren Kombinationsmöglichkeiten sinnlicher  Erfahrungen gekoppelt ist. Sehen, Hören, Sprechen und Verstehen: Diese menschlichen Fähigkeiten bilden die Grundlage für jegliche Form von Medienaneignung, die sich – bezogen auf den hier gewählten und von Clemens Zimmermann vorab ausgeleuchteten Darstellungszeitraum – von den reich illustrierten Bibeldrucken des Konfessionalisierungszeitalters über die bebilderten Unterhaltungszeitschriften und „Gartenlauben“ des späten 19. Jahrhunderts bis zu den bildunterlegten Botschaften der Webseiten unserer glokalisierten Gegenwart erstreckt.

Die Herausgeber sind dankbar, dass sich mit Karl-Heinz Ziessow, Gloria Sanz-Lafuente, Ernst Langthaler und Martin Schreiber vier ausgewiesene FachkollegInnen bereit erklärten, an dem Vorhaben mitzuwirken, sowohl differenzierende Blicke auf die ländliche Mediengeschichte zu werfen wie große Entwicklungslinien im Längsschnitt von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart zu ziehen. Sie stellten ihre Forschungsergebnisse vorab auf der eintägigen Tagung der Gesellschaft für Agrargeschichte in Frankfurt am Main am 11. Juni 2010 vor und erzeugten mit ihren Beiträgen eine rege Diskussion vor Ort. Diese belegte, wie lohnend nicht nur der Abdruck der Referate selbst erscheint, sondern auch wie sinnvoll weitere Forschungen auf diesem Gebiet sind.

Sind etwa der von K.-H. Ziessow beschriebene hohe Alphabetisierungsgrad und die nachweisbare Lektürebereitschaft, die sich für die bäuerliche Elite Nordwestdeutschlands um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert fast schon als charakteristisch erweisen, auf andere ländliche Regionen Mitteleuropas übertragbar? Welche Wertigkeit besitzt bei den bäuerlichen Konsumentinnen die gegen Ende des 19. Jahrhunderts expandierende Verfügbarkeit populärer Lesestoffe, die in der von G. Sanz-Lafuente ausgearbeiteten Studie als „Schmutz- und Schundliteratur“ berechtigterweise Erwähnung findet, die in der bisherigen Forschung aber nur eine nachgeordnete Rolle spielt, da die auswertbaren Quellen den Nachweis tatsächlicher Rezeption verwehren? Welche Auswirkungen hat für die dörfliche Gesellschaft der von E. Langthaler skizzierte Medialisierungsschub in den 1930er Jahren, als neben die fachliche „Autorität“ der zweifelsfrei politisch-ideologisch agierenden Landwirtschaftsblätter gänzlich neue Medien wie das Telefon, das Kino und schließlich – in breiter und rasch rezipierter Form – das Radio mit seinen verschiedenen Sendungen tritt? Und ist das von M. Schreiber ins Spiel gebrachte Internet das mediale Spiegelbild einer allumfassenden globalen Form der Kommunikation, die den über Jahrhunderte gültigen Zustand des Stadt-Land-Gegensatzes mit all seinen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschieden zu nivellieren oder gar aufzulösen beginnt? Antworten auf diese Fragen wird die agrarhistorische Forschung nicht alleine geben können. Sie wird auf die Unterstützung von Nachbarwissenschaften angewiesen sein, wie überhaupt bei diesem Themenheft deutlich wurde, dass die Erforschung der Medialisierung ländlicher Gesellschaften die Bereitschaft zur Verzahnung historischer, soziologischer, medien- und kulturwissenschaftlicher Interpretationsansätze erforderlich macht.

Uwe Meiners
Clemens Zimmermann

 

Inhalt

Editorial S. 8-9

Clemens Zimmermann: Mediennutzung in der ländlichen Gesellschaft. Medialisierung in historischer Perspektive S. 10-22

Karl-Heinz Ziessow: Vom „Memorisieren“ zur „Information“ – Schreibendes Lesen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts S. 23-34

Gloria Sanz-Lafuente: Buch- und Zeitungslektüre badischer Bäuerinnen und Bauern um 1900 S. 35-49

Ernst Langthaler: Massenmedien in der ländlichen Gesellschaft im Nationalsozialismus – am Beispiel der Agrarpresse S. 50-64

Martin Schreiber: Internetnutzung in der ländlichen Gesellschaft S. 65-76

REZENSIONEN S.101-124

Abstracts

 

Clemens Zimmermann: Media Use in Rural Society. Medialization in an Historical Perspective
Here, media use is understood as an active process. On the one hand, this process must be regarded as a medialization process. On the other hand, it must also be understood as a process of media “appropriation“(„Aneignung“). Media use always depends on social contexts. Under the conditions of rural life, especially the time budget available to the users, the rhythms of social life and everyday work, material leeway, and the relation between medialized and direct communication were important. In rural society, media contents were acquired within the village society where social control was strict and people knew one another. The rules of media use in families were also more pronounced than in cities. Since the early modern era, rural society was penetrated by media which generally came from outside, such as books and the radio. Newspapers, which were often produced in small towns, were closer to  rural society. Genuine rural media were in particular letters, farm diaries, and petitions. In Germany, rural areas gained early and comprehensive access to the communication networks of the telephone and later the internet. Gradually, the patterns of use of these media in rural areas were virtually no different from those in the cities.

 

Karl-Heinz Ziessow: From „Memorizing“ to „Information“ – Writing and Reading in the First Half of the 18th Century
This contribution addresses the close interrelation between oral and written cultural techniques. Reading and writing have important social functions. First, the knowledge of script and writing served representative purposes among property-owning farmers. In addition, it was embedded in other symbolic acts. Second, writing gave social acts in everyday life a visible, lasting character. It preserved prestige claims and supported individual and collective memories. Third, writing down dates and events in diaries and notebooks was an important instrument of rational farm management. Due to the medialization of social agreements, they gained permanent material effectiveness. Fourth, written entries documented public acts of communication. Especially conflicts within the village were observed and then put in writing. In turn, this influenced the power structure among the peasants. The church as a public space was also a “place of verbal representation“. Altogether, social writing practice was supported by printed books, i.e. writing instructions as well as official forms. Thus, local practice was connected to territorial norms. As the 18th century progressed, initial traces of a new, medialized enlightenment and information society could be found.

 

Gloria Sanz-Lafuente: Book and Newspaper Reading of rural Men and Women in Baden around 1900
Rising levels of popular literacy, rural libraries, publications and print media are still subjects in historical research on the media in the first half of the 20th century in Germany. Jack Goody has always given priority in his work to the huge consequences and social changes brought about through reading and writing. The aim of this paper, however, rather is to study peasant reading practices in the rural areas of Baden and to summarize the results of an historical approach. A changing dynamic in the relationship between peasants and print culture was related to the development of a new and heterogeneous rural Baden inside a national economy in the midst of industrial growth. Firstly, reading is considered not only as an active process of the peasants but is also influenced by social, economic and gender factors. Secondly, different levels of access, interaction and feedback with regard to print culture in rural areas are observed as a basis in the study. Lastly, print media are studied as part of the development of new cultural consumption as well as a new area for communication and publicity in rural areas.

 

Ernst Langthaler: Mass Media in Rural Society in Nazi Germany – the Case of the Agrarian Press
The article investigates the role of the mass media in rural society in Nazi Germany with an emphasis on the agrarian press. An overview of the literature concerning the diffusion of the provincial press, rural broadcast and village cinemas between 1933 and 1945 highlights the importance of the mass media for the ‘cultural modernisation’ of rural society. These insights are being deepened by a case study focusing on an official farmers’ journal in the province of Niederdonau in former Austria from 1938 to 1944. By combining quantitative and qualitative content analyses of about 9.000 headlines, the main strategies of the editors are being explored: the downgrading of the ideological concept of the ‘peasant’ (Bauer) and the upgrading of the more pragmatic concept of the ‘farmer’ (Landwirt); the Germanisation of nationality and other layers of collective identities; the outline of a hierarchically structured ‘rural people’ (Landvolk) governed by the experts of the Reich Food Estate (Reichsnährstand); the construction of German agriculture as a ‘national farm’ led by the state. However, the case of a column in the journal which was abandoned shortly after its introduction reveals the limits of encoding meanings by the editors as well as the possibilities of decoding meanings by the readers as an ‘active audience’

 

Martin Schreiber: Internet Use in Rural Society
Information and communication technologies, especially the internet, are rapidly diffusing throughout today’s (western) societies. However, not all population groups and not all geographical areas are participating equally in this process. While a number of theories argue that information and communication technologies allow people to interact despite distance and physical absence (“death of distance”), empirical results for Germany show a consistent gap between internet use in metropolitan and rural areas. This “digital divide” may stem from differences in education, income and other household attributes as well as from technology differences in internet connectivity. Network effects turn out to be an important enhancing factor with regard to the individual probability of becoming an Internet user. These empirical results show that even if information and communication technologies present new possibilities to access and to diffuse knowledge independent of location, local proximity plays an important role for certain modes of knowledge generation and distribution. In recent years, several programs have been launched by the German government as well as by the European Commission that aim to reduce the regional differences with regard to access and use of new technologies. These are accompanied by some local programs specifically targeting wider Internet diffusion and IT competencies in rural regions.

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