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Jg. 67 – Heft 2 – 2019: Agrarproduktion und Marktentscheidungen

Hg.: Johannes Bracht und Stefan Brakensiek

 

INHALT

7-14
Johannes Bracht, Stefan Brakensiek
Editorial: Agrarproduktion und Marktentscheidungen

15-36
Oscar Dube
Zwischen Dreifelderwirtschaft und Agrarrevolution: Zur Entwicklung der landwirtschaftlichen Methoden in Sachsen im
19. Jahrhundert

37-68
Ulrich Pfister
Langfristiges Agrarwachstum in Deutschland, ca. 1500–1880: ein Überblick

69-90
Jochen Ebert, Tommy Schirmer, Werner Troßbach
Berufsbezeichnungen, Landbesitz und Nahrungsmittelbedarf: Indikatoren für die Proportion agrarischer und nichtagrarischer Tätigkeiten in einer nordosthessischen Kleinregion um 1770

91-108
Friederike Scholten
Der adelige Gutsbesitzer als Getreidehändler. Rheinland und Westfalen, 18.–19. Jahrhundert

110-112
Abstracts

114-128
Rezensionen

Michael Span: Ein Bürger unter Bauern? Michael Pfurtscheller und das Stubaital 1750-1850
(Gunter Mahlerwein)

Niels Grüne, Jonas Hübner, Gerhard Siegl (Hg.): Ländliche Gemeingüter – Rural Commons. Kollektive Ressourcennutzung in der europäischen Agrarwirtschaft – Collective Use of Resources in the European Agrarian Economy (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen)
(Frank Konersmann)

Vicente Pinilla/Henry Willebald (Eds.): Agricultural Development in the World Periphery. A Global Economic History Approach
(Ernst Langthaler)

Joachim Hamberger, Otto Bauer: Wald. Mensch. Heimat. Eine Forstgeschichte Bayerns
(Johann Kirchinger)

Matthias Ulmer: Medienbauer. Die Geschichte des Verlag Eugen Ulmer 1868-2018
(Clemens Zimmermann)

Clemens Zimmermann, Gunter Mahlerwein, Aline Maldener (Hg.): Landmedien. Kulturhistorische Perspektiven auf das Verhältnis von Medialität und Ruralität im 20. Jahrhundert
(Werner Nell)

130
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

 

Editorial: Agrarproduktion und Marktentscheidungen
Johannes Bracht, Stefan Brakensiek

Innerhalb der deutschsprachigen Agrargeschichte bilden quantifizierende Ansätze eher die Ausnahme als die Regel. Das hat mit der kulturgeschichtlichen Neuorientierung der Geschichtswissenschaft zu tun, die in Abgrenzung zur Sozialgeschichte statistischen Methoden in erster Linie kritisch-dekonstruierend begegnet. Als ein unbeabsichtigter Effekt der kulturhistorischen Wende ist in den letzten 30 Jahren das Interesse an statistischen Methoden zurückgegangen. Von diesen generellen Tendenzen blieb die Historiografie ländlicher Gesellschaften nicht unberührt, ganz im Gegenteil: Sie zählte zu den führenden Teildisziplinen in diesem Perspektivwechsel. Mit Werner Troßbach (1997: 110) kann man die Anthropologisierung der Erforschung der ländlichen Gesellschaft als entscheidenden Bruch mit der Agrargeschichte in der Tradition Wilhelm Abels bezeichnen, die sich durch einen explizit wirtschaftshistorischen Zugang über Preise, Löhne, Erträge und Abgaben und zumindest zu Beginn auch durch ein Interesse an sehr langfristigen Entwicklungen auszeichnete.

Die Wirtschaftsgeschichte hat sich mit der „Neuen Institutionenökonomik“ ihrerseits in Teilen von quantifizierenden Ansätzen abgewandt, um das Funktionieren von ökonomischen Institutionen, wie Märkten und das Unternehmen, zu erklären. Deshalb sind die Bedingungen für eine quantifizierende Agrargeschichte aktuell eher ungünstig. Quantifizierende Methoden werden nicht mehr als selbstverständlicher Teil der Curricula gelehrt und gelernt. Damit verliert die Agrargeschichte zusehends einen Teil des Methodenspektrums, ähnliches ist für die Historische Demographie und die Klimageschichte zu konstatieren (Mauelshagen 2010: 34).

Auf europäischer Ebene bildet allerdings die Agrargeschichte ein besonders fruchtbares Feld für quantifizierende Forschungsansätze. In den Tagungen des CORN-Projektes und seines Nachfolgers, des PROGRESSORE-Verbundes, bildeten sie grundlegende Säulen für die angestrebten europäischen Vergleiche. Zwar waren in den daraus hervorgegangenen Veröffentlichungen Beiträge zu Mitteleuropa immer vertreten, sie beruhten jedoch im Vergleich zum westlichen Europa und Skandinavien auf einem wesentlich bescheideneren Forschungsstand.

Dieses Heft möchte dazu beitragen, der verbreiteten Sprachlosigkeit zwischen Historikerinnen und Historikern, die mit quantifizierenden Methoden arbeiten, und denjenigen, die qualitative sozial- und kulturhistorische Herangehensweisen bevorzugen, entgegenzuwirken, indem es Ergebnisse jüngerer quantifizierender Forschung vorstellt und ihre Bedeutung vor allem als Werkzeug der Heuristik für die anderen Sparten historischen Arbeitens profiliert. Denn Quantifizierung ermöglicht es, bestimmte soziale und wirtschaftliche Sachverhalte und Entwicklungen vergleichbar zu machen, die im Lokalen oder in einer Region beobachtet wurden. So können transregionale und internationale Abhängigkeiten und Asymmetrien identifiziert werden, die dann Ausgangspunkte bilden für weitere Fragen, die mit dem ganzen Methodenspektrum der Geschichtswissenschaft anzugehen sind.

In einem wichtigen Punkt stimulierte die neue Kulturgeschichte Forschungen zur Agrarwirtschaft, nämlich bei der Reflexion über Märkte als Institutionen. Was mit Giovanni Levi (1985) und Craig Muldrew (1998) für Bodenmarkt und Kreditmarkt begann, mit dem Versuch Märkte und Preisbildung auf die ihnen zugrundeliegenden Tauschbeziehungen, ökonomischen Praktiken und Verhaltensweisen zu beziehen, findet seit einigen Jahren Fortsetzung in Studien zu den Getreidemärkten. Waren der älteren Agrargeschichtsschreibung „die Menschen abhandengekommen“ (Schnyder-Burghartz 1992: 16), so werden in einem ersten Schritt die Marktsituationen und ihre Anbieter und Nachfrager benannt und etwaige Beziehungen befragt (so bereits Konersmann 2004). Unter anderem aus der Kenntnis dieser sozialen Dimension des Marktes schöpfend gelingt verschiedenen Studien darüber hinaus eine Verbindung zwischen ökonomischem Handeln und abstrakten ökonometrischen Konzepten, indem sie Marktauftritte und Marktentscheidungen aus der mechanistischen Vorstellung universell gültiger „Marktgesetze“ befreien (Fenske 2006; Scholten 2012; Pindl 2018). Dass Marktmechanismen aus ökonomischem Verhalten der Marktakteure erschlossen und eben nicht vorausgesetzt, sondern als Untersuchungsgegenstand begriffen werden, liegt den aktuellen quantifizierenden Forschungen zugrunde. So haben Forschungen zu Westfalen den Prozess der Herausbildung von Pachten untersucht und dabei im eher makroökonomischen Zugriff ergeben, dass die deflationierten Pachtzinsen im 19. Jahrhundert nicht mit den Reinerträgen Schritt hielten, was darauf verweist, dass der Preisbildungsprozess vom Ideal der neoklassischen Pachttheorie abwich (Bracht/Pfister 2019). Auf dem Weg qualitativer Verdichtung kann es gelingen, Mikro- und Makroebene zu verbinden, was allenthalben eine Herausforderung historischer Forschung bleibt.

Unabhängig davon sind makroökonomische Perspektiven von Belang, wenn sie auf indirektem Wege aufmerksam machen auf Sachverhalte, die Rückwirkungen auf das Tun Einzelner hatten, auch wenn noch nicht klar ist, in welcher Form. So sollten makroökonomische Forschungen auch als „Detektoren“ dienen, bisher unbeachtete Probleme ausfindig zu machen. Ein typisches Feld quantifizierender Ansätze ist die Preisgeschichte, wobei hierzu Produkt- wie Faktorpreise zu zählen sind. Aus Veränderungen im Verhältnis von Zeitreihen zueinander – hier von Produktpreisen zu Löhnen – schloss bereits Abel auf grundsätzliche Verschiebungen auf den Faktormärkten. Philip T. Hoffmans Studie über die Wirtschaft im ländlichen Frankreich (Hoffman 1996) stimulierte zahlreiche Arbeiten, in denen gewichtete Löhne und Pachten in ihrem Verhältnis zu Produktpreisen eine Berechnung der Totalen Faktorproduktivität erlaubten. Pachten genießen gegenüber Verkaufspreisen für Land den Vorteil häufigerer Transaktionen, damit schneller Preisanpassung und größerer Verbreitung vor allem in den Regionen früher agrarwirtschaftlicher Intensivierung, Flandern und England. Sie sind damit zu einem wichtigen Zugang zur Analyse des Wandels in der Agrarproduktivität geworden (Hoffman 1996; Allen 1988; Clark 2002), wenn auch, der dahinterliegenden neoklassisch-mechanistischen Logik wegen, durchaus ernst zu nehmende Kritik daran geäußert wurde (Grantham 2000).

Demgegenüber haben aber auch traditionellere Zugänge zur Geschichte von Produktivität weiterhin Gültigkeit. Der geläufigste Ansatz ist die Untersuchung des bis ins 19. Jahrhundert gebräuchlichen Ernte-Aussaat-Verhältnisses, mit dem in diesem Heft Oskar Dube, Ulrich Pfister und Jochen Ebert, Tommy Schirmer und Werner Troßbach argumentieren. Es verweist insbesondere auf die technischen oder auch nur verfahrenstechnischen Seiten der Agrarwirtschaft. Gleichzeitig birgt es aber auch beträchtliche Unsicherheiten, etwa die des fehlenden Zusammenhangs der Fruchtfolgen. Angaben über konkrete Erntemengen finden sich in Quellen vor Beginn der flächendeckenden Ernteerhebungen in den 1870er Jahren zwar immer wieder einmal, und können so in den Kontext der Entwicklung ländlicher Gesellschaften gestellt werden (Cord 1997; Mahlerwein 2001; Grüne 2011). Aussagekräftige, mehrere Dekaden abdeckende Zeitreihen zur Entwicklung der Flächenproduktivität und des Outputs vor dem späten 19. Jahrhundert konnten jedoch bisher nur für den Niederrhein (Kopsidis u.a. 2017; s. auch den Beitrag Pfister in diesem Heft) und für Sachsen (Kopsidis/ Pfister 2013) erstellt werden. Neue Daten ebenfalls für Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert verspricht die in Arbeit befindliche Dissertation von Oscar Dube zu liefern.

Schätzungen des gesamten landwirtschaftlichen Outputs eines Territoriums haben Bedeutung erlangt im Zusammenhang mit der von Angus Maddison (1987) angestoßenen Forschungsrichtung, in der Zeitreihen des volkswirtschaftlichen Wachstums gebildet werden, welche wiederum eine der wichtigsten wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen überhaupt beantworten helfen: Warum manche Gesellschaften reicher als andere waren und sind. Dass diese Forschungsrichtung epochenübergreifende Entwicklungen gerade mit dem Wachstumsparadigma zu fassen versucht, das gesellschaftlich längst ambivalent bewertet wird und auch in der agrarhistorischen Forschung zum vergangenen Jahrhundert nicht mehr ohne Auseinandersetzung mit Wachstumsfolgen behandelt werden kann, verdient kritische Reflexion, nicht so sehr aber die Verwendung moderner ökonomischer Kategorien an sich (Rössner 2018: 653-654), deren Kritik eher die Position des Historismus gegenüber der Sozialgeschichte in den 1970er Jahren repliziert. Wesentliche konzeptionelle Impulse für aktuelle Forschungen zu Agrarproduktion und -produktivität kamen aus der britischen Forschung, die traditionell von dem Modell einer Agrarrevolution inspiriert ist und deshalb der quantitativen Agrargeschichte weniger reserviert als die deutsche Forschung gegenübersteht, wie die Agrarian History of England and Wales zeigt. Allerdings gewann auch in Großbritannien die Quantifizierung der Agrarproduktion und -produktivität erst in den 1990er und 2000er Jahren an Fahrt, als von mehreren Forschern – Robert Allen, Gregory Clark, Mark Overton, Bruce Campbell, und dem Kollektiv Michael Edward Turner, John V. Beckett und Bethanie Afton – Zeitreihen zu Preisen, Löhnen, Pachten und Flächenerträgen erstellt wurden. Daraus resultierte eine lebhafte Diskussion, in der mehrere Deutungen miteinander konkurrierten. Mit Robert Allens These der „Kleinen Divergenz“ unter Europas Ökonomien in der Frühen Neuzeit ist aus diesem Forschungsumfeld seit einigen Jahren ein neues Konzept mit internationaler Anziehungskraft entstanden.

Die neuere quantifizierende Agrargeschichte in Deutschland ist von diesen Impulsen stark beeinflusst worden (Kopsidis 2006; Pfister 2017; Bracht/Pfister 2019). Deren schwindende Bindung an die Geschichtswissenschaft in Deutschland geht also einher mit einer stärkeren Einbindung in internationale Zusammenhänge. Mit den spezifisch deutschen Gegebenheiten der Vielfalt der Territorien, Währungen, Maße und Gewichte ist freilich die Ausgangssituation für die deutsche Forschung nicht einfach. Während es britischen, französischen, auch schwedischen Forschern leicht von der Hand geht, Daten verschiedener Regionen einem Vergleich zu unterziehen oder in ein nationales Gesamtbild einzubetten, hat die deutsche Forschung zunächst grundwissenschaftliche Ergebnisse zu liefern. Die Beiträge dieses Heftes sind innerhalb des skizzierten Forschungsumfelds angesiedelt und adressieren jeweils eigene Schwerpunkte und unterschiedliche Methoden.

Oscar Dube trägt in seinem Beitrag Daten aus der historischen Literatur und aus Quellenrecherchen zu einem Gesamtbild der Flächennutzung, Nutzungssysteme und Anbauverhältnisse im Königreich Sachsen zwischen 1800 und 1913 zusammen. Der Artikel arbeitet im Detail heraus, dass die Agrarmodernisierung im System der Dreifelderwirtschaft stattfand, deren Brachfeld sukzessive zugunsten der Besömmerung eingeschränkt wurde. Eine strategische Stellung nimmt der Wandel von extensiver Grünlandnutzung zu intensiver Wiesenwirtschaft und die damit verbundene Verbreitung von Stallfütterung ein. Dieser Wandel setzte bereits vor den Agrarreformen ein, sodass die Bedeutung der institutionellen Veränderungen (Aufhebung von persönlichen Bindungen der Landbevölkerung an die Grundherren und Grundlastenablösung) relativiert wird.

Der Beitrag von Ulrich Pfister beruht auf der Synthese von dessen eigenen Forschungen, den Arbeiten seiner Mitarbeiter und denjenigen von Michael Kopsidis, die sich zu einer Rekonstruktion des Wirtschaftswachstums in Deutschland (in den Grenzen von 1871) zwischen Früher Neuzeit und 19. Jahrhundert fügen. Pfister schätzt das Agrarwachstum einerseits indirekt über die geschätzte Bevölkerungszahl und den Pro-Kopf-Konsum, dessen Höhe wiederum in Abhängigkeit von Preis- und Einkommensbewegungen berechnet wird, andererseits anhand der Preise für rheinländische Teilpachten, die wiederum die Flächenerträge näherungsweise wiedergeben. Danach resultierten aus dem Agrarwachstum ab etwa 1750 Outputs pro Kopf, die sowohl das Bevölkerungswachstum als auch die Urbanisierungseffekte mehr als ausglichen. Auf der Ebene der Produktivität stellt Pfister zunächst die Stabilität der Ernte-Aussaat-Relation in Sachsen dar, und betont ebenso wie Dube das Wachstumspotential der Umnutzung der Brache. In einer indirekten Schätzung auf Basis der Entwicklung von Preisen, Löhnen und Pachten in Westfalen und im Rheinland gelangt er zu dem Ergebnis, dass während der Frühen Neuzeit das Niveau der Totalen Faktorproduktivität bemerkenswert schwankte. Diese Ergebnisse werden mit natürlichen Einflussfaktoren erklärt, auf der einen Seite mit dem Rückgang der durchschnittlichen Temperaturen im 16. Jahrhundert, wodurch die durch steigende Bevölkerung induzierten Intensitätsgewinne nicht zum Tragen kamen, auf der anderen Seite mit der klimatischen Erholung nach dem sogenannten Maunder-Minimum der Kleinen Eiszeit, in der sich steigende Produktivität verzeichnen lässt. Schließlich ließ der Verlust an fruchtbarem Boden infolge von Bodenerosion in der Phase von 1730 bis 1800 die Totale Faktorproduktivität merklich sinken.

Die Ausführungen Pfisters zur Agrarproduktivität bestätigen daneben Deutschlands Position in der These der „Kleinen Divergenz“, die eine der wichtigsten Thesen zur europäischen Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ist (Allen 2000; 2001; 2003). Kern der These ist, dass sich die Ökonomien der Nordseeanrainer und der zentral-, ost- und südeuropäischen Länder so stark auseinander bewegten, dass sich im Nordwesten Europas ein deutlich höherer Lebensstandard etablieren konnte. Sowohl Ernte-Aussaat-Verhältnisse als auch die TFP-Schätzung legen ein vergleichsweise niedriges technisches Niveau der Produktion in Deutschland nahe.

Folgt man Allen (2003), so fand sich in den deutschen Staaten als Aggregat zwischen 1500 und 1750 die europaweit technisch am wenigsten entwickelte Agrarwirtschaft, weil sie mit relativ vielen Arbeitskräften einen nur geringen Anteil städtischer Bevölkerung ernährte (Allen 2003: 409). Sucht man nach den Gründen, so findet man für Deutschland eine außergewöhnlich niedrige Arbeitsproduktivität (bzw. deren Annäherungswert), die in seiner Rechnung durch den niedrigen Urbanisierungsgrad determiniert ist. Nach Allen (2000: 11) lebten 1750 91 Prozent der Bevölkerung Deutschlands auf dem Land, und 64 Prozent der Gesamtbevölkerung erarbeiteten das Agrarprodukt für Stadt und Land. Der Beitrag von Ulrich Pfister korrigiert diese Zahlen sogar noch nach oben.

Jochen Ebert, Tommy Schirmer und Werner Troßbach durchdringen in ihrem Beitrag die Komplexität des Verhältnisses zwischen Agrarproduktion, Gewerbe und Handel auf dem Lande im Detail am Beispiel einer Region, die nicht zu den protoindustriell verdichteten Gewerbegebieten gehörte und dennoch keineswegs als reine Agrarregion zu bezeichnen ist. In elf der Quellendichte wegen ausgewählten Dörfern im nordhessischen Werra/Meißner-Gebiet wurden um 1770 in den untersuchten Katasterunterlagen nur 38 Prozent der Haushalte als Landwirte oder Tagelöhner bezeichnet. Selbst die dortigen „Ackermänner“-Haushalte erwirtschafteten an Brotgetreide wohl nicht mehr als sie selbst verbrauchten, und hatten rechnerisch Arbeitskraftpotential für gewerbliche Tätigkeiten. Führte Rainer Beck (1993) noch die Austauschvorgänge innerhalb eines Dorfes vor Augen, so weisen nun Ebert, Schirmer und Troßbach interregionale Austauschrelationen, in diesem Fall mit Thüringen, nach.

Beide Befunde, ein großer landwirtschaftlicher Bevölkerungsanteil im Ganzen und ein kleiner in den elf Dörfern, sind vereinbar. Zunächst belegen die Autoren, dass steueradministrative Erwerbsbezeichnungen einigermaßen verlässlich sind (eine Basis der Pfisterschen Schätzung). Die nordhessischen Befunde weisen außerdem – auch wenn das Sample nicht repräsentativ ist – unterdurchschnittliche Erträge pro Fläche und pro Saatmenge aus. Die natürlichen Spielräume in dieser Region waren begrenzt; die beträchtliche Nachfrage in den Dörfern nach Lebensmitteln forcierte den Anbau der Kartoffel und den Getreideimport. Und so stellt die Studie von Ebert, Schirmer und Troßbach keine Antithese zu Pfisters Beitrag dar. Eher legt sie mit mikrohistorischen Mitteln eine spezifische agrarhistorische Ausprägung dar und wirft die Frage auf, wie häufig solche regionalen Interdependenzen in Agrarproduktion und -distribution waren und wie sehr sie das heutige, vielleicht allzu stimmige Bild des für die Stadt produzierenden Landes stören können.

Bemerkenswerterweise wenden Ebert, Schirmer und Troßbach bisherige Konnotationen solcher, eher problematisch scheinender Erwerbsverhältnisse, dass etwa Haushalte „auf Nebenerwerb angewiesen sind“ ins Positive: Hier erscheinen gewerbliche Haushalte im Dorf als Reservoir für zusätzliche Einkommen und daraus resultierende Konsumchancen. Dieser Perspektivwechsel wirft die Frage auf, ob eine stark auf die Agrarproduktion fixierte Sicht ländlichen sozialen Daseins vielleicht überholt ist. Die These einer Fleißrevolution, welche Agrarproduzenten wie Gewerbetreibende motivierte, zugunsten des Konsums ihr Arbeitspensum zu erhöhen, bietet die passende Folie für solch eine Interpretation (De Vries 1997). Immerhin: Rechnerisch gab es in den Werra-Dörfern genug Arbeitspotential; Fleiß konnte sich in Konsumspielräumen auszahlen, wenn es denn Arbeit für alle gab und Gesetze und Machtverhältnisse Konsum erlaubten (vgl. Ogilvie 2015). Die in dieser Region verbreiteten adeligen Eigenbetriebe können durchaus diese Chancen geboten haben.

Der Beitrag von Friederike Scholten schließlich beleuchtet den Getreideverkauf von Gütern. Gerade das von großen Getreideverkäufern konstituierte Marktgeschehen findet bei Scholten und weiteren Forschern derzeit großes Interesse (Pindl 2018; Scholten 2012). Ihr Hauptanliegen besteht darin, das Zustandekommen von ökonomischen Entscheidungen zu beleuchten und Handlungen auf Erwartungen und bereits gemachte Erfahrungen zurückzuführen. In den letzten Jahren ist die Frage thematisiert worden, wie in Krisenzeiten mit Getreidevorräten umgegangen wurde und auf welche Weise der Jahreszyklus die Vermarktung von Getreide steuerte (Collet 2010; Pindl 2018; Herment/Ronsijn 2015). Indem die von Scholten untersuchten Güter gleichzeitig die wichtigsten Getreideverkäufer für Tagelöhner, Gewerbetreibende und kleinbäuerliche Schichten vor Ort waren, konnten Gutsbesitzer über den Verkauf die sozialen Konsequenzen der Getreidepreisentwicklung steuern. Wenn Tagelöhne, Getreidepreise und womöglich Pachten durch ein und denselben Verwalter ausgehandelt werden, wenn Treue und Fürsorge zu den wichtigen Motiven für ökonomische Entscheidungen zählten (Bracht/Scholten 2019), ist es zumindest gewagt, von anonymem Marktgeschehen und von determinierenden Preis- und Lohnbewegungen integrierter Märkte auszugehen. So steht Scholtens Beitrag in diesem Heft stellvertretend für den derzeitigen Trend der quantifizierenden Agrarwirtschaftsgeschichte, die agency von historischen Akteuren in Rechnung zu stellen.

 

Literatur

Allen, Robert C. (1988): The price of freehold land and the interest rate in the seventeenth and eighteenth centuries, in: Economic History Review 41:1, S. 33-50.

Allen, Robert C. (2000): Economic structure and agricultural productivity in Europe, 1300-1800, in: European Review of Economic History 4, S. 1-26.

Allen, Robert C. (2001): The great divergence in wages and prices in Europe from the Middle Ages to the First World War, in: Explorations in Economic History 38, S. 411-447.

Allen, Robert C. (2003): Progress and poverty in early modern Europe, in: Economic History Review 61, S. 403-443.

Béaur, Gérard/Schlumbohm, Jürgen (2003): Einleitung. Probleme einer deutsch-französischen Geschichte ländlicher Gesellschaften, in: Prass,

Reiner/Schlumbohm, Jürgen/Béaur, Gérard/Duhamelle, Christophe (Hrsg.), Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich, 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen, S. 11-30.

Beck, Rainer (1993): Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993.

Bracht, Johannes/Pfister, Ulrich (2019): Landpacht, Marktgesellschaft und Agrarentwicklung. Fünf Adelsgüter zwischen Rhein und Weser, 16.-19. Jahrhundert (erscheint Stuttgart 2019).

Bracht, Johannes/Scholten, Friederike (2019): Between rack rents and paternalism. Economic behavior and the lease market in Westphalia, with a particular focus on the 19th Century, unveröffentlichtes Manuskript.

Campbell, Bruce M. S. (2007): Three centuries of English crop yields, 1211-1491 [WWW document], URL http://www.cropyields.ac.uk (zuletzt abgerufen 8. Mai 2019)

Clark, Gregory (2002): Land rental values and the agrarian economy: England and Wales, 1500–1914, in: European Review of Economic History 6, S. 281-308.

Clark, Gregory (2018): Growth or stagnation? Farming in England, 1200–1800, in: Economic History Review 71:1, S. 55-81.

Collet, Dominik (2010): Storage and starvation: Public granaries as agents of „food security“ in early modern Europe, in: Historical Social Research 35:4, S. 234-253.

Cord, Alix Johanna (1997): Der Strukturwandel in der ostholsteinischen Gutswirtschaft um 1800 dargestellt am Beispiel der adligen Güter Rixdorf und Salzau, Neumünster.

De Vries, Jan (1994): The Industrial Revolution and the Industrious Revolution, in: Journal of Economic History 54, S. 249-270.

Fenske, Michaela (2006): Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln/Wien/Weimar.

Grantham, George (2000): The French agricultural productivity paradox: Measuring the unmeasurable, in: Historical Methods 33, S. 36-46.

Grüne, Niels (2011): Dorfgesellschaft – Konflikterfahrung – Partizipationskultur. Sozialer Wandel und politische Kommunikation in Landgemeinden der badischen Rheinpfalz (1720-1850), Stuttgart.

Herment, Laurent/Ronsijn, Wouter (2015): Seasonal patterns in food markets in north-west Europe in the second quarter of the nineteenth century: The evidence of periodic markets in France, England, and Belgium, 1820 to 1850, in: The Agricultural history review 63:1, S. 60-80.

Hoffman, Philip T. (1996): Growth in a traditional society: the French countryside, 1450–1815, Princeton NJ.

Konersmann, Frank (2004): Bauernkaufleute auf Produkt- und Faktormärkten. Akteure, Konstellationen und Entwicklungen in der Pfalz und in Rheinhessen (1760-1880), in: ZAA 52:1, S. 23-43.

Kopsidis, Michael (2006): Agrarentwicklung. Historische Agrarrevolutionen und Entwicklungsökonomie, Stuttgart.

Kopsidis, Michael/Pfister, Ulrich (2013): Agricultural development during early industrialization in a low-wage economy: Saxony, c. 1790-1830, European Historical Economics Society Working Paper 39.

Kopsidis, Michael/Pfister, Ulrich/Scholten, Friederike/Bracht, Johannes: Agricultural output growth in a proto- and early industrial setting: Evidence from sharecropping in Western Westphalia and the Lower Rhineland, c. 1740–1860, in: Rural History 28:1 (2017), S. 21-46.

Levi, Giovanni (1986): Das immaterielle Erbe. Eine bäuerliche Welt an der Schwelle zur Moderne, Berlin.

Maddison, Angus (1987): Growth and slowdown in advanced capitalist economies: Techniques of quantitative assessment, in: Journal of Economic Literature 25:2, S. 649-98.

Mahlerwein, Gunter (2001): Die Herren im Dorf. Bäuerliche Oberschicht und ländliche Elitenbildung in Rheinhessen 1700-1850, Mainz.

Mauelshagen, Franz (2010): Klimageschichte der Neuzeit 1500-1900, Darmstadt.

Muldrew, Craig (1998): The economy of obligation: The culture of credit and social relations in early modern England, London.

Ogilvie, Sheilagh C. (2015): Revolution des Fleißes. Leben und Wirtschaften im ländlichen Württemberg von 1650 bis 1800, in: Hirbodian, Sigrid/Ogilvie,Sheilagh/ Regnath, R. Johanna (Hrsg.), Revolution des Fleißes, Revolution des Konsums: Leben und Wirtschaften im ländlichen Württemberg von 1650 bis 1800, Sigmaringen 2015, S. 173-193.

Overton, Mark/Whittle, Jane/Dean, Darron/Hann, Andrew (2004): Production and consumption in English households, 1600-1750, London.

Pfister, Ulrich (2017): The timing and pattern of real wage divergence in pre-industrial Europe: Evidence from Germany, c. 1500-1850, in: Economic History Review 70:3, S. 701-729.

Pfister, Ulrich/Kopsidis, Michael (2015): Institutions vs. demand: determinants of agricultural development in Saxony, 1660-1850, in: European Review of Economic History 19:3, S. 275-293.

Pindl, Kathrin (2018): Grain policies and storage in southern Germany: The Regensburg hospital (17th-19th Centuries), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 59:2, S. 415-445.

Rössner, Philipp Robinson (2018): Historia magistra vitae – ad acta oder ad nauseam? Frühneuzeitforschung und Wirtschaftsgeschichte im Zeitalter von Neoliberalismus und Trump (1973-2018), in: Zeitschrift für Historische Forschung 45:4 (2018), 651-714.

Schnyder-Burghartz, Albert (1992): Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700. Vorindustrielle, ländliche Kultur und Gesellschaft aus mikrohistorischer Perspektive – Bretzwil und das obere Waldenburger Amt von 1690 bis 1750, Liestal (CH).

Scholten, Friederike (2012): Adelige Gutswirtschaft und Getreidemärkte in Westfalen 1650-1850, Master-Arbeit Münster.

Turner, Michael Edward/Beckett, John V./Afton, Bethanie (1997): Agricultural rent in England 1690-1914, Cambridge.

Turner, Michael Edward/Beckett, John V./Afton, Bethanie (2001): Farm production in England 1700-1914, Oxford.

Troßbach, Werner (1997): Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien. Anmerkungen zur Gegenständen und Methoden, in: Historische Anthropologie 5:2, S. 187-211.

 

Abstracts

Oscar Dube
The development of crop rotation in 19th century Saxony
Data from unique agricultural surveys from the late 18th century as well as recent research on deforestation give surprising results concerning agricultural development in Saxony, one of the most densely populated and industrialized regions of Europe and Germany in the 19th century. For the first time for Germany, the pattern of land use can be reliably reconstructed for as early as 1800. Change was slow but steady afterwards. Instead of full enclosures, fencing of small plots (“Hegung”) within the fallow allowed for modifications of crop rotations within traditional methods and institutions. However, characteristics of the classic three field rotation were kept until the end of the 19th century and key characteristics of the English agricultural revolution could not be found: cultivation of legumes stayed quite low, cultivation of grain stayed above 60 percent even until after 1900, and four crop rotations were never dominant. Still, food supply was stable during the 19th century. If a continental and land-locked region could sustain dramatic population growth while largely keeping the traditional system, then the English standard model of an agricultural revolution cannot be a template for continental development. Specifically, crop rotations must have contributed far less to agricultural growth than previously thought.

Ulrich Pfister
Agricultural growth in Germany, c. 1500–1880: an overview
The study reviews evidence produced with different methods to track output and productivity in agriculture during the pre-statistical era and derives a characterization of the long-term evolution of the agricultural sector in Germany during the three-and-a-half centuries prior to the transition to modern economic growth. The three methods are: (1) An indirect estimation of agricultural output using a consumption function; (2) returns from tithes and sharecropping as proxies for grain production; and (3) an estimate of total factor productivity (TFP) using product prices and rents of input factors. Yield ratios and a TFP estimate for four estates in Westphalia suggest stagnant productivity during the seventeenth and eighteenth century in most parts of Germany. Feeding an expanding population thus required more intensive cultivation of land at a declining marginal product of labour, testified by a rising rent-wage ratio and an expansion of the arable. Regions situated in the neighbourhood of proto-industrial were exceptions to this general picture: at least from c. 1740 output grew in line with population there, and output per agricultural worker rose. Nevertheless, the effects of demand from proto-industrial workers on agricultural growth was weaker compared to effect of expanding urban populations in north-western Europe. Only the emergence of modern industry from the 1830s set a strong stimulus to agricultural modernization.

Jochen Ebert, Tommy Schirmer, Werner Troßbach
Occupations, land-man ratio, and food needs: Indicators for the proportion of agricultural and non-agricultural activities in eleven villages of Northern Hesse (c. 1770)
As a measurement of labour productivity in agriculture the proportion of population numbers in urban and rural areas provides only approximate estimates. To come to a closer determination, the share of agricultural activities in the cities has to be regarded just as the share of non-agricultural activities in the countryside, the latter being the main purpose of the present article. In the 18th century in most of the villages in Central Germany only a small number of households consisted of full-time farmers, while a majority of inhabitants was practising mixed economies. To determine the proportion of agricultural and non-agricultural labour in mixed economies, we were drawing upon yield checks (village-based tests conducted between 1770 and 1772 for taxation purposes) in combination with contemporary food estimates, household lists, and pay rolls recorded for 11 villages in a Central German (Northern Hesse) region. As a result, the average share of income gained on own farm plots differed in accordance with a household’s occupational orientation, amounting from 25% (day-labourers) to 50% (weavers and craftsmen), and 65% (teamsters). Only the upper layers of the latter were able to accumulate noteworthy surplus incomes to turn their consumption patterns into the direction of an „industrious revolution“. On the other side, in proportion with the share and the composition of households with non-agricultural occupations, most of the villages fell short of feeding their own inhabitants (with conspicuous shortcomings in the dairy sector in a majority of villages) on local agricultural resources, even if fallow cultivation (mainly flax, cabbage, tobacco, and – after c. 1760 – a sharply rising share of potatoes) is included.

Friederike Scholten
The owners of manors in Rhineland and Westphalia as vendors of grain
The essay analyses the economic function and the social embedding of grain sales on noble manors in the 18th and 19th century in Rhineland and Westphalia. It turns out that the sale of grain surpluses, which take place regularly during the year at the castle courtyard, generated income that co-financed the owners a decent life. By selling to local people who had no direct access to agriculture and were thus highly dependent on local markets, the sale had a stabilizing effect on the rural social fabric. This goes along with the idea of the paternalistic landowner who had care for his entire community. In addition, within the frame of “interlocking markets”, the contemporaries simultaneously met on labor and product markets. Thus, it was also in the operational interest of the landowner to ensure their livelihood. This is also the reason for the efforts observed to give the sale a solid institutional framework, which regulated its preparation and course of action and gave the actors involved a permanent role. The study reveals the complexity of the grain management on noble estates. Here, landowners, even also in the manorial west, were more than recipients of pensions and dues. In their role as paternalistic landlords they led their operations according to moral principles, also for their own protection. Nevertheless, profit thinking was not entirely foreign to them. This can be seen in the professionalization and rationalization measures, which, however, were clearly limited.

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